René Schlittler (1929-2019)

 Über 70 Jahre hat René Schlittler als Künstler gelebt und gearbeitet. 2018 ist sein Atelier bis in den letzten Winkel vollgestopft mit Werken, Materialien und Werkzeugen – eine Art Gesamtkunstwerk. Ins Auge fallen zunächst die grossformatigen Holzobjekte, die um die und nach der Jahrtausendwende entstanden sind. Hinter ihnen, an den Wänden, in Regalen und Schränken, finden sich die frühen Bilder und Zeichnungen der 50er- bis 70er- Jahre sorgsam verstaut. Von den vielen Performances der 80er-Jahre zeugen nur noch die unzähligen, teils selbstgebauten Instrumente und Klangkörper auf der Galerie des Ateliers. Über 50 Jahre hat René Schlittler hier gearbeitet. Der Künstler, dem das Sein stets wichtiger war als das Haben, hat sich zwar an Ausstellungen beteiligt, aber sich wenig um den Verkauf bemüht. Entsprechend ist sein Werk kaum dokumentiert. Das Atelier ist das eigentliche Archiv seiner künstlerischen Existenz. 

 

René Schlittler wurde 1929 als Sohn einer Appenzellerin und eines Glarners in Basel geboren – eine ungewöhnliche Mischung, die Schlittler selbst gerne zur Erklärung seines kritischen und hartnäckigen Charakters heranzog. Nach einer Töpferlehre und der Kunstgewerbeschule in Basel und Zürich entschied er sich für ein Leben als Künstler: „Ich hätte gar nichts anderes machen können“, sagt er heute. Sein Weg führte von der Keramik über die Bildhauerei, Malerei und Installation zur (Klang-)Performance. 1964 war er einer der ersten Mieter der Ateliergenossenschaft Basel, jahrzehntelang hat er den Ausstellungsraum Klingental technisch und künstlerisch betreut. 

 

Nach einer abstrakt-geometrischen Phase fand René Schlittler bald zu einer nicht gegenständlichen Zeichen-Malerei. Die ausdrucksstarken Werke der 1960er-Jahre sind geheimnisvoll und zeigen in unzähligen Varianten ein Symbol, das wie ein kryptisches Zeichen aus einer vergangenen (oder kommenden) Epoche anmutet: „Als Bildhauer suchte ich nach einer Form, die mehr ist als nur eine dekorative Aussage. So kam ich zum Symbol. Ich suchte nach einem Zeichen, das in seiner Qualität uralt sein könnte und doch eine Neuschöpfung ist.“ René Schlittler fand sein Thema im Jahrhundert-Wort „Atom“. Der Ost-West-Konflikt und die Vorstellung der Vernichtung der Menschheit durch einen Atomkrieg waren omnipräsent: „Aus dem Wort Atom hat sich ein Kennzeichen entwickelt, das in seiner Kraft die Macht und die Ohnmacht unserer Zeit zum Ausdruck bringt. Es symbolisiert die technische Grösse der Kernspaltung sowie die Spaltung des Menschen als Zeiterscheinung.“ Mehr als ein Jahrzehnt erforschte der Künstler das nie ganz ausschöpfbare Buchstaben-Symbol in unterschiedlichsten künstlerischen Formen und Techniken. 

 

Symbole beschäftigten René Schlittler weiterhin. Das Neukombinieren von Elementen, das Verschmelzen von Inhalten und das Produzieren von Bedeutungsüberschuss wurden zu seinem künstlerischen Prinzip. Im Gespräch tut sich eine intensive Auseinandersetzung mit Kunst- und Kulturgeschichte, Mystik, Esoterik, Anthroposophie und fern-östlichen Philosophien kund. Immer wieder kommt der fast 90-jährige Künstler auf Dualismen wie Materie und Geist oder Ursprung und Moderne, auf die gegensätzlichen Prinzipien des Weiblichen und Männlichen, auf Mythen und historische Begebenheiten zu sprechen – Elemente, um die auch sein Schaffen kreist. 

 

Die bunten, grossformatigen Holzstelen der letzten Jahrzehnte erinnern an Totem-

pfähle und haben eine starke Signalwirkung. Alltagsgegenstände, Fundstücke, Masken und kultische Gegenstände sind auf geometrischen Formen angeordnet. Immer wieder tauchen das christliche Kreuz, der Davidsstern, das taoistischen Ying-Yang und die Svastika auf, Zahlen und Buchstaben, bisweilen auch Sätze. Und oft finden sich geschnitzte, bemalte Tiere – und auffällig häufig Enten. Die divergierenden Elemente geben dem Betrachter eine Art Bilderrätsel auf, durch das sich die Aussage der Stele aufschlüsseln lässt. Auf die Enten angesprochen erklärt der Künstler mit Verweis auf die wunderbare Brotvermehrung im Neuen Testament: „Es geht um die Entenpredigt. Im Glauben, Brot zu bekommen, scharen sich die Enten um den Menschen am Ufer. Sie nehmen die Predigt in Kauf, wenn sie nachher zu essen bekommen.“ Von einem gesellschaftlichen und zeitkritischen Zynismus zeugen auch die Inschrift auf einer enten-

besetzen Dreiecktafel „Wasser so rein wie der Mensch“, oder der Satz in einer einfachen Holzkiste „Humanismus rentiert nicht“.

 

René Schlittler hat nicht nur das Weltgeschehen, sondern auch die Basler (Kultur-)Politik ein Leben lang mitverfolgt und nicht nur künstlerisch kommentiert. Die Kündigung seines Ateliers in der Ateliergenossenschaft Basel passt für ihn zur Entwicklung der Welt, in der „Platzhirsche“ auf Kosten der Kleinen und Unabhängigen immer mehr Boden gewinnen. Nachdem er in einem ersten Verzweiflungsakt zunächst einfach weitergearbeitet hat („daher ist das Atelier jetzt eine Grümpelbude...“), sieht René Schlittler dem bevorstehenden Verlust seines Werkes nun gelassen entgegen: „Die materielle Dimension ist sekundär, das Geistige aber bleibt erhalten.“ Umso mehr gefällt ihm die Idee mit einem letzten „bösartigen“ Auftritt seines Werks auf das Fehlen eines Ortes für die regionale Kunst aufmerksam machen und einen Beitrag zur Initiative eines Basler Kunstlagerhauses leisten zu können. 

 

 

Ricarda Gerosa, 2018