Von Andreas Chiquet
Für ein Bild Eintritt zahlen?
Wer besucht wegen einem Bild eine Ausstellung? Bis zur vorletzten
Jahrhundertwende wurden einzelne Bilder als Sensation zur Besichtigung
angepriesen, so etwa 1885 Der Schwur der Horatier in Jacques Louis Davids Römer
Atelier. Oder in Basel, wo im Mai 1886 ein Inserat der Basler Nachrichten darauf
hinwies, dass im ersten Stock der Kunsthalle ein - namentlich nicht genanntes -
neues Bild von Arnold Böcklin für einige Tage ausgestellt sei, «Eintritt 50 Centimes,
für Mitglieder des Kunstvereins frei». Solche Ausstellungen einzelner Werke wurden
bisweilen zu einem riesigen Erfolg und zeugen von einer bemerkenswerten
Teilnahme einstiger Zeitgenossen an der aktuellen Kunstproduktion. Wäre das heute
vorstellbar? Die aktuelle Ausstellung des Basler Kunstmuseums zum 75-jährigen
Jubiläum der 1948 gegründeten Künstlergruppe Kreis 48 lohnt sich nun tatsächlich
allein eines Bildes wegen, welches seit Jahrzehnten aus der öffentlich sichtbaren
Sammlung ins Depot verbannt blieb: Max Kämpfs Fresko Die Hölle. Es wurde in zwei
Phasen gemalt und zweifach signiert, mit den Jahreszahlen 1947 und 1949
versehen. Vieles spricht dafür, dass das Bild seit seiner Entstehung an Aktualität
gewinnt.
Die Welt ist die Hölle – und wir sind mittendrin
Dargestellt ist ein frontal gesehenes, mehrgeschossiges Haus, dessen Fassade
weggebrochen ist, ein Bild, welches auch und gerade in jüngster Zeit als
fotografischer Topos der Erdbeben- und Kriegsberichterstattung stetig begegnet. Der
Betrachter ist jedoch nicht mit aufgerissenen, menschenleeren Wohnräumen
konfrontiert, sondern mit einer dicht besiedelten, dauerhaft genutzten Struktur fester,
wenn auch teilweise aus Trümmern improvisierter Einrichtungen zur Versorgung und
Entsorgung menschlicher Wesen. Mehrheitlich feist und allesamt nackt treten diese
im ersten Panel des zunächst an eine comicartige Bildsequenz erinnernden
Hausquerschnitts in die sonderbare Anstalt ein, in Reih und Glied stoisch und ohne
jegliche Interaktion ihr Schicksal erwartend. In anderen Zimmern sind sie hinter
Holzverschlägen eingepfercht, werden in Ofen verbrannt, aufrecht in Fässern
gebadet oder kopfüber aufgehängt. Leichname liegen - wie Holbeins Christus im
Grab - in seitlich offenen Särgen, Schädel stehen auf spiralförmig geschmückten
Stäben in Holzbottichen, wie Blumensträusse. Das ruinöse Haus ist über dem
Wasser gebaut, worin eine Unzahl von Köpfen noch lebender Menschen zu sehen
sind. Ein Raum zeigt eine familiäre Tischszene mit verschiedenen Mischwesen, ein
anderer eine frivole Szene mit Zuschauern und musikalischer Begleitung: Alltag in
einer kaputten Welt.
Von Ratten und Menschen
Diese unentrinnbare Wirtschaft des Grauens wird von aufrecht gehenden, teils
überlebensgrossen Ratten geführt, welche damit beschäftigt sind, die Menschheit zu
«entsorgen». Mit viel Witz und Empathie gezeichnet, werden die mehr oder weniger
menschenähnlichen Ratten zu den Sympathieträgern des Bildes. Sie benehmen sich
weitgehend zivilisiert, für ihren noch auf allen vieren gehenden Nachwuchs stehen da
und dort Futternäpfchen bereit.
Aus einem Verschlag zeigt ein Gefangener mit
christusähnlicher Physiognomie auf eine Ratte, als wolle er wie Pilatus sagen «Ecce
homo» - siehe das ist ein Mensch.
Kämpfs Tierliebe
Hierzu muss man wissen, dass Kämpf eine ungebrochene Liebe zu allen möglichen
Tieren hegte. Er teilte seine Wohnateliers stets mit Tieren, Schildkröten,
Meerschweinchen und Hunden und pflegte verletzte Vögel, die er von seinen
ausgedehnten Spaziergängen mitbrachte. Lange war ein Kauz sein Lebensgefährte,
später ein Papagei, der ihn täglich ins Wirtshaus begleitete. Sein Herz schlug für das
Schäbige und Abgerissene, weil es mehr vom Leben erzählte als das Glatte und
Glänzende – davon spricht auch sein schöner Text E alti Bruchstaimuure. Dass für
ihn auch Ratten positiv konnotiert waren, zeigt das zeitgleich mit der Hölle
entstandene Fresko Anbetung der Tiere, in dem Ratten zu den Protagonisten der
Huldigung Mariens werden. Sieben Ratten sind auf dem Bild zu identifizieren, mit
stupender Eleganz auf den Putz gemalt. Doch sind es dieselben Ratten wie in
Kämpfs Hölle? Sind es «rattifizierte» Menschen oder vermenschlichte Nager? Sie
scheinen humaner als die Menschen. Warum hat nie jemand den Maler danach
gefragt? Dazu wären bis zu Kämpfs Tod immerhin noch 33 Jahre geblieben. Hätte er
die Frage beantworten können?
Erzählstruktur und Entstehungsgeschichte des Bildes
Die comicartige Anordnung der Kammerspiele in Kämpfs Hölle täuscht zwar eine
Handlungssequenz vor – aus der Bildfolge ergibt sich aber kein sinnvoller
Handlungsablauf. Das Bild folgt vielmehr einer Traumlogik, die für Kämpf selbst
kaum zu fassen war, suchte er doch während zwei Jahren nach der gültigen Vision,
über mindestens dreissig zeichnerische Studien und mehrere kleinformatige
Freskoversuche hinaus. Während des Entstehungsprozesses schlägt der Künstler
grössere Partien des Bildes weg, verputzt und bemalt sie von neuem. In seiner
zweijährigen Arbeit an der Hölle scheint Kämpf durch alle sinnstiftenden Mythen ins
Bodenlose gefallen zu sein. Er gerät in einen Strudel des Ungewissen, jenseits von
Geschichte und Gegenwart, jenseits eines Heilsplanes. Mit der Hölle torpediert er
insbesondere seine zuvor entstandenen, vergleichsweise konventionellen Bilder
christlicher Thematik, danach entstehen keine solchen mehr. Man weiss nicht, ob die
menschlichen Insassen der kafkaesken Hölle Täter oder Opfer sind oder beides
zugleich, darüber waltet kein Gott und kein Teufel, kein Gericht und keine
Gerechtigkeit. Und selbst der Ernst der Sache wird da und dort verworfen durch
burleske Szenen und liebenswürdige Figuren. Miniaturisiert in ein Puppenhaus
erscheint das Drama der Hominiden nur noch als nichtige Episode der
Erdgeschichte, die vermeintliche Krone der Schöpfung steht am Rand des Abgrunds
- die Ratten werden uns überleben, deshalb haben sie uns zu entsorgen. Mit der
Hölle wird Kämpf zum Satiriker. Der Oltner Philosoph Eduard Kaeser mutmasste
neulich in der Neuen Zürcher Zeitung: «Könnte man die Evolution fragen, was sie am
meisten bedaure, so würde sie wohl sagen, die Entwicklung der menschlichen
Intelligenz». Der Maler hätte ihm wahrscheinlich zugestimmt.
Zur abgebrochenen Wirkungsgeschichte des Bildes
Bei Kämpfs Hölle handelt sich um die irritierendste und ambivalenteste Arbeit des
Basler Malers. Das Werk hat bei seiner Veröffentlichung Aufsehen erregt: 1949
erlangte es in Zürich den zweiten Rang im Wettbewerb um den Preis der Schweizer
Malerei, 1950 stand das Bild im Zentrum der ersten Ausstellung des Kreis 48 in der
Basler Kunsthalle. Als einziges auf einer Doppelseite wiedergegebenes Werk
prangte es in der Katalogmitte – es muss also auch von den Kollegen die
entsprechende Hochachtung erfahren haben. Aus dieser Ausstellung kaufte es der
damalige Direktor Georg Schmidt für das Basler Kunstmuseum, wo es vermutlich bis
zum Ende seiner Amtszeit sichtbar blieb. Das Bild kann nur im Original angemessen
betrachtet werden. Es ist von derart kleinteiliger Dichte und Qualität, dass auch eine
gute Reproduktion völlig unzureichend bleibt. Im Rahmen der eingangs genannten
Ausstellung ist es immerhin noch bis zum 11. Februar 2024 zu sehen – danach
verschwindet es möglicherweise wieder in den Kellereien des Depots der
«öffentlichen» Kunstsammlung Basels. Tatsächlich kann man sich fragen: Wohin
damit? Allein die Diskrepanz von Material und Ästhetik ist verstörend: Ein
Underground-Comic in der altehrwürdigen Fresko-Technik? Das Werk mag in
mancherlei Hinsicht zu beunruhigend sein, um sich in die Genussstrecken üblicher
Museumspräsentationen einfügen zu lassen, trägt es doch zu viel Welt, zu viel
Grauen, zu viel wildes Denken mit sich – man wird es so leicht nicht mehr los. So
ging es auch Kämpf selbst: Während der folgenden zehn Jahre versuchte er
mehrfach an die Komplexität, die Dringlichkeit und den Weltbildcharakter seiner Hölle
anzuknüpfen, ohne je wieder deren irritierende Prägnanz zu erreichen.
Ein Aufruf
Max Kämpfs Popularität im Basler Fasnachts- und Bildungsbürgertum ist dominiert
von Anekdoten über das schrullig-schräge Stadtoriginal. Eine Einschätzung, die sich
so sehr selbst genügt, dass in den zahlreichen Publikationen über den Maler weder
das Gesamtwerk noch seine besten Arbeiten je einer nennenswerten historisch-
kritischen Würdigung unterzogen wurden. Und dies, obwohl er in der Nachkriegszeit
als einer der - neben Giacometti und Varlin - wichtigsten Schweizer Künstler
eingeschätzt wurde, welche standhaft bei der Figuration blieben.
ARK Basel, das Archiv regionaler Künstlerinnen- und Künstlernachlässe, zeigte 2021
weitgehendend unbekannte Werkgruppen des Malers in akzentuierter,
zeitgeschichtlicher Kontextualisierung. Das Archiv besitzt mit dem Nachlass Max
Kämpfs 25 Vorstudien zur Hölle und plant in seiner Buchreihe Essenzen eine
Monographie über die Entstehungsgeschichte des Bildes, das als singuläres Werk
der Schweizer Malerei des 20. Jahrhunderts betrachtet werden darf. Eigentümer
weiterer Vorstudien des Bildes sind freundlich gebeten, sich an folgende Adresse zu
wenden: info@ark-basel.ch
Und: besichtigen Sie das Bild, solange es zu sehen ist!